Neulich sagte ich freundlich in ein zerknirschtes Teilnehmergesicht „Das Perfekte ist der Feind des Guten“. Denn ich war mir über den Bösewicht in der Aussage sicher: Das Perfektionsstreben setzt allem Guten zu. Doch dieser Mensch verstand den Satz ganz anders: Er solle das Gute hin zum Perfekten verbessern!
Das Streben zum Besseren ist eine Sache der Kultur
Die Wissenschaft zeigt, dass wir heute in einer der besten aller Zeiten leben. Nie war die Lebenserwartung so hoch, die Kindersterblichkeit so niedrig. Unsere Entwicklung ist ein Ergebnis des Strebens nach dem Besseren. Und gleichzeitig gibt es Entwicklungen, die das Gute bedrohen.
„Das Bessere ist der Feind des Guten“ zitierte der französische Philosoph Voltaire (1694-1778) die ursprüngliche italienische Redensart. Als Satiriker war Voltaire fein raus, sich mit deren Bedeutung nicht festzulegen. Und während man im alten Rom „perfectus“ sagte, wenn man „vollendet“ meinte, so lebt es sich heute in Italien uneindeutig zwischen vollkommener Pasta und bruchstückhaften Fahrradwegen.
Perfektion setzt irrational auf Stabilität
So reden wir vom perfekten Wetter oder von der perfekten Präsentation. Und wir sind uns einig: Das Perfekte ist frei von jedem Mangel, erhaben über jeden Einwand. Das ist interessant, denn die psychologische Forschung attestiert uns Menschen eine Tendenz zur Risikovermeidung. Die Orientierung an den Chancen liegt uns eigentlich ferner.
Die Perfektion kommt so „sicher und sauber“ daher, dass wir für sie eine Ausnahme machen und ihre Risiken übersehen. Denn in einer sich wandelnden Welt ist es ja eher bedenklich, das Abgeschlossene und Endgültige anzustreben. Wer will ernsthaft die perfekte Party von 1985 immer wieder wiederholen? Perfektion scheint wie die gute alte Zeit – ein Sehnsuchtsort der Sicherheit.
Perfektionsstreben ist eine Mogelpackung
„Ja, aber“, wirft jetzt manch einer ein, „das Perfekte soll doch gar nicht erreicht werden, man sollte es aber anstreben…“. Die diffuse Sorge lautet, dass etwas Schlimmes passiere, würde man sich auf Erfolgen ausruhen. So wird die Absurdität des Gedankens übersehen: Was, bitte schön, streben wir erwachsenen Geistes an, ohne es auch erreichen zu wollen?
Gut zu wissen, dass absurde Gedanken nicht aus dem Hier und Jetzt kommen. Sie sind vielmehr gespeicherte Glaubenssätze aus der Kindheit, z.B. „Gut ist nicht gut genug!“. Diese Gedanken gehören zu dem sogenannten inneren Antreiber „Sei perfekt!“. Er redet uns ein, dass die eigene Leistung nie genügt und wir mehr und mehr leisten müssen. Und er suggeriert uns, als Mensch dauerhaft nicht gut genug zu sein.
Paradox: „gut genug für jetzt“ schafft Entwicklung
Mike Morhaime, 2012 „National Entrepreneur Of The Year“, sagte: „Du wirst nie abliefern, wenn du immer auf der Suche nach Perfektion bist.“ „Better done than perfect“ heißt entsprechend ein Prinzip der agilen Arbeit. Das bedeutet nicht, mit dem erstbesten zufrieden zu sein. Stattdessen heißt es, zügig etwas umsetzen, Feedback einholen und dann kundenbedürfnisgerecht zu optimieren.
Dazu braucht es die Haltung, dass erst einmal nichts ewig festgeschrieben ist. Ein heute gutes Vorgehen kann morgen, wenn dies relevant und nützlich ist, weiter verbessert werden. Deshalb mag ich ergänzend die Maxime „good enough for now“. Sie ermöglicht es uns allein oder auch im Team, eine Aufgabe abzuschließen und sich dann der nächsten zu widmen. Anders gesagt: „Machen ist wie reden – nur krasser“.
In der eigenen Praxis etwas gut genug machen…
1. Bei welchen Gelegenheiten äußert sich Ihr Perfektionsanspruch? Wozu dient er?
2. Wo könnte Sie „better done than perfect“ beim Vorankommen unterstützen?
3. Wo könnten Sie mit dem Anspruch „good enough for now“ Freiräume für’s Machen schaffen?
Lesen Sie hier gerne mehr, wenn Sie Gedanken, Gefühle und Miteinander gut genug weiter erforschen möchten.
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