Die menschliche Kommunikation ist voller Missverständnisse. Es ist ein Wunder, dass wir uns ab und zu verstehen. Gerade wer unbedingt verstehen will, versteht so manches falsch. Nach jedem Missverständnis wünsche ich persönlich mir eine große Portion Anfängergeist. Denn wer frei von Annahmen ist, kann nicht so viel missverstehen, oder?

Missverständnis ist nicht gleich Missverständnis

Aus einem Seminar erinnere ich die 4 Ebenen des Missverstehens: Aufnehmen, Verstehen, Deuten und Werten. Die Missverständnisse beim „Aufnehmen“ sind einfach: „Ich gehe gern für dich einkaufen, nicht.“ Jugendsprech lädt zum genauen Hinhören ein. Wehe dem, der sich zu früh anderen Dingen zuwendet. Missverständnisse beim „Verstehen“ dringen schon tiefer ins Gehirn: Denn wir verstehen nur, was wir kennen. Und wir missverstehen, weil wir nicht erkennen. Aus diesem Grund notierte ich im ersten Semester den „auto-genetischen“ Effekt, denn „kinetisch“ kannte ich nicht. Das zeigte mich nicht im besten Licht, war aber zwischenmenschlich weitgehend unbedenklich.

Mehr Musik kommt Missverständnisse beim „Deuten“. Denn wir überschätzen die Eindeutigkeit von Begriffen. Dies zeigte sich bei einem deutsch-französischen Projektteam, das auseinanderging mit den Worten „Bis zum nächsten Treffen entwickelt jede Nation ein Konzept“ („Oui, on développe un concept“). Als dann die Deutschen mit einer detaillierten Ausarbeitung im Leitzordner kamen, waren die Franzosen genervt. Und die Deutschen waren empört, denn die Franzosen hatten nur ein Din A 4 Blatt dabei. Es zeigt sich: ein Konzept ist nicht dasselbe wie un concept. Die negativen Gefühle zeigten auch auf ein Missverstehen im „Werten“: Denn den einen missfiel die Dominanz, alles alleine auszuarbeiten und den anderen die Lässigkeit, nur mit einer Idee zu kommen.

Das hättest Du dir denken können

Vielleicht ist dieser Satz die Mutter aller Missverständnisse. Viele haben ihn von klein auf gehört. Statt unsere Sinne einzusetzen und genau zu schauen oder zu hören, statt uns früh im Prozess zu wundern und zügig nachzufragen, machen wir etwas anderes: Wir denken uns etwas. Oder unseren Teil. Denn wer ist schon gern begriffsstutzig oder unfähig zu verstehen, was der andere sagt oder möchte? Lieber verdrücken wir uns die Unsicherheit, die mit der Unklarheit einhergeht. Lieber schaffen wir uns reflexartig eine selbstgemachte Klarheit, in der Annahmen schnell zu Unterstellungen werden.

Das trifft vielleicht besonders diejenigen, die Fanita English als „übersichere“ Persönlichkeiten bezeichnete. Sie sind gern allwissend. Wo die „untersichere“ Persönlichkeit einmal mehr nachfragt, hält die „übersichere“ die eigene Wahr-nehmung für 100%ig zutreffend und, ja, wahr. Vielleicht trifft es auch besonders diejenigen, die im MBTI® eine Präferenz für das Urteilen haben. Denn sie haben die Dinge gern klar und sind schnell entschieden. Und sie erkennen manchmal, dass es mit ihrer Ambiguitätstoleranz nicht so gut bestellt ist. Das ist die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen oder Informationen als solche zu erkennen und anzunehmen.

Mit blindem Verständnis kommt nichts Neues in die Welt

Viele Menschen wünschen sich Eindeutigkeit und Vertrauen. Sie äußern die Sehnsucht nach einem blinden Verständnis, in dem jeder Satz verstanden wird und jeder Handgriff sitzt. Beides ist sehr hilfreich bei Routinetätigkeiten, geregelten Vorgängen und auch in Notfällen. Daniel Kahneman würde anmerken, dass wir im blinden Verständnis unser „System 1 Denken“ aktivieren: Wir rufen Fähigkeiten ab, die wir durch Lernen und Übung aufgebaut haben. Das ermöglicht uns ein schnelles Urteilen und Handeln, auch wenn die Informationslage unvollständig oder widersprüchlich ist.

Wenn es aber darum geht, etwas Neues in die Welt zu bringen, versagt das System 1. Wenn alle alles gleich verstehen, wie kann dann etwas Neues entstehen? Worüber reden, wenn alles klar ist und läuft? Wenn überall blindes Verständnis herrscht, dann wird das Miteinander sehr stumm. Oder alle Gespräche werden langweilige Nacherzählungen derselben Erfahrungen. In einer unmissverständlichen Welt gäbe es kaum Platz für Humor. Und wahrscheinlich auch keinen für Musik, Kunst und Literatur. Denn Missverständnisse bieten ja eine meist ungesehene Seite.

Ein Loblied auf das Missverstehen

Wer freut sich nicht, wenn einer laut trällert, dass er statt an Wunder an Knöchel glaubt („I believe in knuckles“)? Nachdem ihn so viele Beispiele falsch verstandener Liedtexte erreichten, schrieb Axel Hacke: „Im Grunde versteht kaum ein Mensch je einen Liedtext richtig, ja Liedtexte sind überhaupt nur dazu da, falsch verstanden zu werden“. Welch ein kreatives Potenzial! Denn die Anzahl der (Miss-)Verständnisse multipliziert mit der Zahl der Ursprungstexte schafft eine unglaubliche Zahl neuer Lieder…

Zudem haben Missverständnisse das Potenzial Lernerfahrungen auszulösen und Erinnerungen besser zu speichern. Dahinter stecken zwei psychologische Phänomene: Wir lernen besser mit Emotionen und merken uns z.B. was uns überrascht. Und wir erinnern unsere Fehler besser als unsere Nicht-Fehler: Der „autokinetische Effekt“, die optische Täuschung, dass sich ein heller Lichtpunkt im Dunkeln zu bewegen scheint, ist mir seit 30 Jahren im Gedächtnis. Das kann ich von den damals korrekt gespeicherten Effekten nicht behaupten…

Freuen Sie sich mit Anfängergeist auf Missverständnisse

Anfängergeist ist die Bereitschaft, an alles mit Neugier und Offenheit heranzutreten. Es ist die Kunst, alles frisch und neu zu sehen und auch Vertrautes neu zu erleben: Was genau haben Sie gehört? Wie verstehen Sie einen Begriff? Welche Annahmen treffen Sie? Wie be-werten Sie eine Absicht? Lassen Sie Ihren inneren Forscher die Dinge betrachten, als sähe er sie zum ersten Mal:

1. Prüfen Sie für sich: Wo begegnen Ihnen Missverständnisse? Welche Gedanken über sich, andere und die Welt begleiten sie? Was wird möglich mit Anfängergeist?

2. Sprechen Sie mit den Menschen in Ihrem Team: Welche Bedeutungen hat ein häufig genutzter Begriff? Z.B. Werte, wie Vertrauen, Autonomie, Unterstützung – oder auch Wünsche, wie „mehr Information“ oder „bessere Kommunikation“.

3. Küren Sie gemeinsam das Missverständnis des Monats! Was hat es in der Zusammenarbeit neu ermöglicht?

Und sollte es Missverständnisse geben, an denen Sie länger knabbern, melden Sie sich gern hier für ein Gespräch. Denn im Individual oder Team-Coaching gelingen die frischen Blicke, die Energie und Handlungsfähigkeit zurückgeben.