„Der ist ja ganz schön selbstbewusst!“ Das sagte eine Kollegin nach dem ersten Zusammentreffen mit einem neuen Kollegen. Mir sind damals viele Attribute eingefallen: lernfreudig, extravertiert, ernsthaft. Aber selbstbewusst? Die Vokabel nutze ich nicht. Ein Grund darüber nachzudenken, wie sich das eigene Menschenbeschreibungs-Repertoire bildet und zusammensetzt.

Eine Aussage über den Betrachter, nicht das Betrachtete

„Was Dir alles auffällt!“ Wer kennt ihn nicht diesen Satz. Entweder, weil wir selbst etwas bemerken, was andere nicht sehen. Oder aber, weil ein anderer etwas sieht, was uns nicht auffällt. Manchmal nimmt ein Experte etwas wahr, was dem Laien verborgen bleibt: Als Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation höre ich z.B. jedes „Ich habe das Gefühl, dass…“ . (Und ergänze: „Du hast kein ‚Gefühl, dass‘ . Du hast einen ‚Gedanken, dass‘. Denn ein ‚Gefühl, dass‘ ist Unsinn, kein Mensch sagt ‚Ich habe das Gefühl, dass ich wütend bin‘“). In anderen Situationen sind unsere Gehirne „geprimed“, d.h. geprägt durch frische oder eindrückliche Erfahrungen: Wer die Logopädiepraxis verlässt, tritt in eine Welt voller Sprechbesonderheiten…

Am anderen Ende des Spektrums ist es erstaunlich, wie wenig Unterschiedliches Menschen bemerken. So gibt es hier in Hessen die Zuschreibung „Des is kein Beeser“ („Das ist kein Böser“), womit für einige schon alles gesagt ist. Mich erinnert es an die Verabschiedung einer Grundschullehrerin. Alle Kinder waren aufgefordert, ihr zu schreiben „was ich an Dir mag“. Alle 25 Kinder schrieben den gleichen Satz „Ich mag an Dir, dass Du nett bist.“ Nett. Keine andere Beschreibung schaffte es aufs Blatt. So gesehen ist der gemeine Hesse auf dem Differenzierungsniveau eines Grundschülers.

Persönliche Konstrukte sind unser eigener Brillensatz

Jeder verfügt über einen mehr oder weniger differenzierten Satz an Beschreibungen. Wie diese aussehen, zeigt die Psychologie der persönlichen Konstrukte, die George A. Kelly mit dem sogenannten „Repertory Grid“ erforscht hat. Das können Sie auch: Listen Sie 8-10 persönlich relevante Personen auf, z.B. Kollegin Mara, Empfangsdame Mira, Chefin Manuela, Mitarbeiter Max, Ex-Kollege Moritz. Dann kombinieren Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Was haben Mara und Max gemeinsam und wie unterscheidet sich Moritz von ihnen? Was haben Mira und Mara gemeinsam und wie unterscheidet sich Manuela von ihnen? Auf diesem Weg kommen Sie auf Ihre Konstrukte. Die heißen vielleicht Kollegialität, Eigensinn, Freundlichkeit, Ehrgeiz.

Für den Zweck der persönlichen Konstrukte ist es nicht entscheidend, dass sie sich sauber ausschließen. Es geht mehr darum herauszufinden, durch welche Brillen Sie andere Menschen betrachten. Denn Sie sehen aktuell nur, was vorhandene Brillen hergeben. Diese spiegeln Ihre Erfahrungswelt: kollegiale, freundliche, eigensinnige und und ehrgeizige Menschen. Wenn Sie das erkennen, können Sie sich ein „Konstruktgewahrsein“ zuschreiben. Denn Sie wissen nun: es ist nicht so, dass die Welt oder die Menschen „so“ sind, sondern es ist so, dass Sie die Welt bzw. die Menschen so sehen können.

Persönlichkeit ist, was der Persönlichkeitstest misst

Jetzt widersprechen Sie vielleicht und sagen: Moment, ist wirklich alles Konstruktion? Denn die Frage ist ja interessant: Wie ist die andere Person denn jenseits meiner Beobachter-Konstrukte? Die jahrzehntelange Persönlichkeitsforschung kennt 5 zugrundeliegende Faktoren, welche die Unterschiede zwischen Menschen beschreiben. Sie sind jeweils Skalen, auf denen die Ausprägung der Persönlichkeit verortet ist. Nicht exakt auf den Punkt, aber mit einem sogenannten Vertrauensintervall und einem geringen Messfehler. Wenn Sie erst Ihre persönlichen Konstrukte finden möchten, überspringen Sie den nächsten Absatz und lesen ihn erst ganz zum Schluss.

Die erste Skala „Neurotizismus“ hat am einen Pol z.B. Ängstlichkeit, Erregbarkeit, Verletzlichkeit und am anderen Belastbarkeit, Gelassenheit, Optimismus, Unbefangenheit. Die zweite Skala bietet die Verortung von „Extraversion“ (z.B. Geselligkeit, Aktivität, Durchsetzung) bis „Introversion“ (z.B. Zurückhaltung, Ruhe, Nüchternheit). Die Skala „Offenheit für Erfahrungen“ umfasst am einen Ende z.B. Kreativität, Neugierde, Vorstellungsvermögen und am anderen Konservatismus, Traditionen, Pragmatismus. Die vierte Skala „Verträglichkeit“ (z.B. freundlich, entgegenkommend, gutmütig) hat den Gegenpol z.B. wettbewerbsorientiert, skeptisch, unsentimental. Und die 5. Skala „Gewissenhaftigkeit“ (z.B. systematisch, pflichtbewusst, diszipliniert) differenziert zu locker, unsystematisch, nachlässig. Gut zu wissen: Beschrieben werden hier Verhaltenstendenzen.

Nur was auffällt kann Wirkung erzeugen

Sind Sie neugierig auf Ihre Wirklichkeitskonstruktionen? Dann erfahren Sie etwas über das, was Sie sehen (können). Andere Personen werden andere Aspekte erkennen. Ergänzen Sie durch den Austausch mit anderen Ihr eigenes Repertoire und was Sie zukünftig sehen können:

1. Nehmen Sie sich selbst a) heute, b) vor 10 Jahren und c) vor 20 Jahren: Was haben die letzten beiden gemeinsam und wie unterscheiden Sie sich heute von Ihnen?

2. Stellen Sie diese Frage einer Person, die Sie gut kennt: was hatten Sie 2012 und 2002 gemeinsam und wie unterscheiden Sie sich davon in 2022?

3. Machen Sie die oben beschriebene „Repertory Grid“ Übung in Ihrem Team. Finden Sie heraus, wo Sie über ähnliche bzw. unterschiedliche Konstrukte verfügen und was das bewirken könnte.

Ich bin neugierig auf Ihre Konstrukte! Welche Ideen haben Sie, die wahrgenommenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede produktiv zu nutzen? Melden Sie sich gern hier für ein Gespräch.

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