Es mag an der EM liegen und daran, wie sich Bastian Schweinsteiger 2014 in unser kollektives visuelles Gedächtnis geblutet hat. Mich erreichen aktuell viele Posts, die auf die Kraft der Disziplin verweisen, wie z.B. „Erfolg ist 10% Inspiration und 90% Transpiration“.

Vielleicht ist das nur dem Wetter geschuldet. Vielleicht sind Disziplin und Fleiß aber auch die Brillen, durch die der Deutsche die Welt betrachtet. So kommentieren z.B. die Menschen mein wiederaufgenommenes Joggen gern mit „fleißig, fleißig“. Keiner sagt „freudig, freudig“, obwohl ich mit dem mir eigenen Sport-Lachgesicht vorbeitrabe und mich alles andere fühle als diszipliniert.

Disziplin zwischen gutem Ruf und schlechtem Gewissen

Irgendwie halten mich andere für diszipliniert. Menschen, mit denen ich abends ein Bier getrunken habe, behaupten dann am Morgen Dritten gegenüber: „Christina trinkt ja keinen Alkohol!“. Disziplin ist also auch ein Nebel im Auge des Betrachters. Schreibt man mir dann auch noch „Fleiß“ zu, quietsche ich innerlich. Denn wer fleißig ist, ist klein und tut etwas für die Gunst der anderen. Da sind Zielstrebigkeit, Engagement und Wirksamkeit bei mir durchaus positiver besetzt. Obwohl ich weiß, dass die Persönlichkeitseigenschaften rund um Gewissenhaftigkeit als Vorboten des Erfolgs gelten.

Besonders die Forschung zum Belohnungsaufschub haben der Disziplin ihren guten Ruf beschert. Ganz vorne der Marshmallow-Test: Das Forscherteam um Walter Mischel lies vierjährige Kinder in den 1970ern mit einem Marshmallow allein. Sie stellten sie vor die Wahl, es entweder sofort zu essen oder später ein zweites zu bekommen. Kinder, die diszipliniert die Belohnung aufschieben konnten, zeigten sich als junge Erwachsene zielstrebiger, erfolgreicher, gesünder, resilienter und wurden als sozial kompetenter beurteilt, so das Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Auch die neuseeländische Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study erklärte die Selbstdisziplin in der Kindheit als Indikator für Erfolg im Erwachsenenleben.

Ich habe keine Schwierigkeit mit Disziplin, aber habe ein Problem mit ihr

Da fällt mir gern ein, dass ich als Pferdemädchen 500 Mark in 2 Mark Einheiten auf ein Pferd gespart habe. Offenbar habe ich die Erwachsenen, die diesen Disziplin-Deal vorgeschlagen hatten, schwer überrascht! Denn das Pferd kam nicht, aber die Disziplin blieb. Hinzu gesellte sich die Frage, warum die Disziplin den Menschen wohl so wichtig ist. Disziplin (lat. Lehre, Zucht, Schule) kommt so eisern daher, in einer Verfilmung würde ich sie mit einem „Alter Fritz“-Hologramm darstellen. Dabei kann noch nicht einmal Wikipedia etwas Eindeutiges zu ihr schreiben und verlinkt sofort auf zwei Begriffe: Selbstdisziplin und Gehorsam.

Den ersten Punkt hat das Pferdemädchen hoffentlich geklärt. Der zweite macht deutlich, warum ich Appelle an die Disziplin in der Rubrik „treten und läutern“ verorte. Ich frage mich, ob die Disziplin-Apostel in 2 Kategorien fallen. Die einen sind die „Whistle in the dark“-Vertreter: Wer nach Disziplin ruft, ist sich vielleicht der eigenen Disziplin unsicher (ich sage nur: Das Pferdeversprechen!). Die anderen sind die „Better go my way“-Verkäufer: Sie verfügen selbst über ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Leider oft in der englischen Variante. Denn „keeping a stiff upper lip“ ist die Selbstdisziplin, die verbietet, sich Verletzlichkeit oder überschwängliche Freude anmerken zu lassen. Die Franzosen sagen dazu mit strengem Blick „Contenance!!!“ Puh, wer nur den Hammer Disziplin hat, für den sind alle Köpfe nur Nägel.

Wenn es keine Disziplin ist, was ist es dann?

Disziplin ist nicht nur ein Nebel, sondern auch ein Konstrukt im Auge des Betrachters. Was Leute nicht alles für diszipliniert halten! „Vegetarisch essen. Das könnte ich nicht“. „Regelmäßig Sport. Die Disziplin bringe ich nicht auf.“ „Yoga am Morgen. Das schaffe ich nicht“. Und dann hat diese Disziplinzuschreibung auch noch eine potenziell sozial offensive Seite! So erkläre ich mir die irritierten Reaktionen der Umwelt, wenn Menschen auch „unter Beobachtung“ das tun, was sie für richtig halten: den Wein ausschlagen, ihr glutenfreies Brot mitbringen, mit Fahrrad oder Bahn anreisen, ihr Sportprogramm auch am Männer-Wochenende absolvieren.

Denn möglicherweise geht es all diesen disziplinierten Menschen so wie mir: Was andere Menschen mit Disziplin verbinden, strengt mich nicht an. Es ist einfach das Richtige. Die Belohnung steckt entweder im Tun selbst und die Sache macht so viel Freude, dass damit eine direkte Selbstbelohnung und Dopaminausschüttung einhergeht. Oder die Handlung ist eine vergleichbar kleine Sache für eine langfristige große Selbstbelohnung, wie Wohlfühlen und Schmerzfreiheit. Nicht nur Bastian Schweinsteiger würde wohl auf die Frage „Wofür?“ antworten „für den Erfolg“.

Ohne Disziplin die Disziplinarmen erreichen

Doch was tun, wenn Sie zweifeln, wie Sie beim Marshmallow-Test abgeschnitten hätten? Was tun, wenn der eigene mediale orbitofrontale Cortex so verdrahtet ist, dass er die sofortige kleine Belohnung fordert? Wie vorgehen, wenn Sie die Appelle der Disziplin-Verkäufer eher schrumpfen als wachsen lassen? Die Antwort ist: Spielen! Denn beim Marshmallow-Test hatten die disziplinierten Kinder besondere Strategien: sie streichelten ihr Marshmallow und stellten sich vor, es sei ein Schäfchen, das es zu beschützen gilt, bis das zweite Schäfchen kommt.

Genau das ist meine Strategie! Mach ein Spiel für dein Gehirn aus jeder Aufgabe! Musste ich als Kind aufräumen, spielte ich „Aufräumleute“. Unter „Wie sieht es denn hier aus!“-Rollenspielgemurmel haben wir Kinder klar Schiff gemacht. Musste ich im Stall Futter verteilen, dann machte das die Oberkommandeurin des 1. Kuhgeschwaders. Und auch heute noch schwimme ich 20 Bahnen mit Motivations-Mathematik: Bei Bahn 2 gilt „schon 1/10 geschafft“. Bei Bahn 3 „schon fast 1/7, was ein Sprung!“. Bahn 4: Hey, 20%“ usw. Ist die Aufgabe noch so stupide, ein Spiel macht sie zum Dopamin-Booster!

Disziplin hin oder her, ins Tun kommen

Nachdem der Nebel in den Augen gelichtet ist und das Konstrukt Disziplin erkannt ist, bleibt die Frage: Was ist Ihr Weg? Mögen Sie spielen?

1. Nutzen Sie „Gegen die Uhr“ als universelles Spiel für alle Fälle von „Ich kann mich nicht aufraffen“: Timer stellen und los.
2. Spielen Sie mit Mathematik für alles, was eine Anzahl hat oder Flächen: Teilen Sie. Feiern Sie Bruchzahlen, Anteile, Prozente.
3. Erlauben Sie sich Spaß und Kreativität und sogar einen inneren Spitznamen: Sergeant Steuererklärung. Kommissarin Konfliktgespräch. Alfredo Ablage.

Sollte das Spielerische nicht Ihr Fall sein, gehen Sie den ernsthaften Weg: werden Sie sich klarer über Ihre Ziele, Ihre Werte und Bedürfnisse. Erarbeiten Sie Strategien, mit denen Sie Ziele, Werte und Bedürfnisse im Einklang verfolgen. Vereinbaren Sie dazu gern hier ein Gespräch.

Foto: Sasin Tipchai/ Pixabay