Wenn ich Sätze höre, die mit „Ich muss…“ beginnen, bin ich streng. Denn ich bin überzeugt: Wir „müssen“ ziemlich wenig. Außer – so der Stand der Forschung – sterben. Es sind vor allem die sehr verantwortungsbewussten Menschen, die vieles „müssen“. Dummerweise geben sie per „Ich muss…“ ihre Selbstverantwortung ab!

„Müssen“ ist nicht die Antwort auf „Nicht dürfen“

„Ja aber, manche Dinge muss man doch“, höre ich dann. Dann nutze in gern diese Übung: Führe 10 x den Satzanfang „Ich muss …“ weiter – mit all dem, wovon Du glaubhaft annimmst es zu müssen. Sehr zuverlässig folgen Sätze wie „Ich muss Geld verdienen, hilfsbereit sein, mich um meine Eltern kümmern, eine gute Mutter sein, Steuern zahlen…“ you name it.

Stehen all diese Sätze auf dem Papier, folgt eine Sortierhilfe zum Müssen: Es gibt 1. Regeln. Es gibt 2. Vereinbarungen. Und es gibt 3. Gesetze. Regeln sind festgehaltene, verbindliche Richtlinien, beispielsweise „Wenn die Ampel rot zeigt, halte an“. Sie schaffen selten auf die Liste der „Ich muss“ Sätze. Vereinbarungen sind eine andere Sache: Wer eine abwechselnde Moderation ausmacht und dann sagt „Ich muss moderieren“, blendet die eigene Verantwortung aus. Zu guter Letzt bestimmen Gesetze, was man nicht darf. Entweder aufgrund der normativen Ethik oder aufgrund der hiesigen Gesetzbücher. „Ich darf meine Kinder nicht verhungern lassen“ stimmt,„Ich muss für meine Familie kochen“ ist dagegen etwas anderes.

„Ich muss“ engt den Blick ein

Das Problem ist: „Ich muss“ führt zu einem Tunnelblick. Und der Blick in den Tunnel suggeriert: Es gibt nur einen Ausgang. Dabei „muss“ der Mensch nicht einmal durch diesen Tunnel. Vielleicht führen geeignete Wege um den Berg herum oder über den Berg hinüber. Der Gedanke „Ich muss“ setzt uns auf einen Zug, der automatisch durch den Tunnel saust. Man kommt nicht vom Zug. Der Zug kommt nicht von den Schienen. Und Durchblick und Autonomie bleiben auf der Strecke …  

Doch es gibt Wege, den Zug zu verlassen! Zum Beispiel die Frage: „Kannst Du Dir vorstellen, dass es auch nur einen gesunden Menschen auf der Welt gibt, der anders denkt und handelt?“ Riskiert dieser Mensch das Höllenfeuer? Oder Konflikte mit dem Strafgesetzbuch? Nein? Dann bricht er weder ein universelles noch ein lokales Gesetz. Wenn er auch keine Regel missachtet und keine Vereinbarung verletzt, beantworte Dir Deinen „Ich muss“-Satz mit „Nein, das musst Du nicht!“

Wir treffen Entscheidungen, um uns Bedürfnisse zu erfüllen

An dieser Stelle schiebe ich gern ein, dass wir im Leben mehr tun, als zu sterben. Und was wir tun, tun wir, um uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Auch das, was wir meinen zu „müssen“. Mehr noch, wir entscheiden uns sogar, diese Dinge zu tun. Deshalb ist die Frage wichtig: Welche Bedürfnisse befriedige ich mir damit? Zum Beispiel entscheide ich mich, für meine Familie zu kochen, um mir Genuss und Gemeinschaft zu erfüllen. Zudem tue ich es auch für Ruhe, denn die hungrigen Vögelchen in meinem Nest können seeehr ausdauernd und geräuschvoll die Schnäbel aufreißen…

Wer die 10 „Ich muss…“-Sätze umformuliert zu „Ich entscheide mich, … zu tun, um mir mein Bedürfnis nach … zu erfüllen“, findet Interessantes heraus: Oft tauchen gleiche Bedürfnisse an verschiedenen Stellen auf. Manche Bedürfnisse sind bekannt, manche blinde Flecken. Gerade verantwortungsbewusste Menschen sind oft überrascht von ihren Bedürfnissen nach Unterstützung, Entspannung oder Leichtigkeit. Solange sich diese Bedürfnisse in „Ich muss“-Sätzen verstecken, können diese Menschen kaum selbstverantwortlich für ihre Bedürfnisse sorgen.

Freiheit gewinnen in der Selbststeuerung

Sind die Bedürfnisse dagegen bekannt, tut sich eine weitere Freiheit auf. Weil Bedürfnisse eher abstrakt sind, wie z.B. Entwicklung, Autonomie oder Verbindung, können sie auf vielen Wegen erfüllt werden. Also nicht nur auf diesem einen Weg, den der Zug auf den Schienen suggeriert. Wem es beim Kochen um Genuss geht, dem geben die Restaurants in der Nähe gern Leckeres mit. Wer Gemeinschaft braucht, kann auch zum Spielen oder Spazieren einladen. Wer Ruhe sucht, kann z.B. Pausen vereinbaren.

All dies gilt auch für das „Müssen“ bei der Arbeit. Denn viele „entscheiden sich“, hilfsbereit zu sein, um sich das Bedürfnis nach Anerkennung zu erfüllen. In der Reflexion stellen sie fest, dass sie bereits anerkannt werden, sie „müssen“ dafür nichts tun. Oder aber sie merken: Anerkennung hieße zu erfahren, wobei anderen ihre Hilfe schätzen. Bei all dem wird deutlich: Wer Klarheit hat, was er braucht, gewinnt einen größeren Handlungsspielraum. Denn wer seine Bedürfnisse kennt, kann sie auf alternative Arten erfüllen – selbst wenn die bevorzugte Art zeitweise verwehrt bleibt.

Entscheiden Sie sich, das „Ich muss“ abzulösen

 1. Vervollständigen Sie 10 Satzanfänge „Ich muss…“. Schreiben Sie auf, was Sie auf eine Art wirklich glauben.

2. Schreiben Sie um „Ich entscheide mich…, um mir mein Bedürfnis nach… zu erfüllen“.

  1. Sammeln Sie 3-5 anderen Wege, wie Sie Ihre wichtigen Bedürfnisse erfüllen könnten.

Wer neugierig ist auf Gedanken, Gefühle und das Miteinander, findet hier mehr!